Montag, 6. März 2017

Essay: Gegen die Sicherheitsabstände tradierter Moral


Was mir Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ noch heute mitzuteilen weiß

Die Frage nach dem Eigenwert eines Kunstwerks erscheint wichtiger als jener Gegenwert, den der Künstler seiner Arbeit oktroyiert; außerhalb eines Textes sinnliches, subjektives Inspizieren mutet zielgerichteter an als innerhalb eines Textes akademisches, objektives Verifizieren. Was der Künstler für sich erreichen „wollte“, ist nichts im Vergleich zu dem, was er uns „sagt“, da es durch „uns“ erst den Wert erhält, der durch „ihn“ angestoßen wird. Die Herausforderung, auf „uns“ zu horchen, muss höher eingeschätzt werden als die Herausforderung, auf „jemanden“ zu hören, zum Beispiel Sicherheitsabstände einzuhalten, seien es historische Deutungsratgeber oder dem Zeitgeist angelehnte Ideen- und Gedächtnisbarrikaden.

Stellen wir uns ein Kunstwerk als paradiesischen, vor nassschwülen Temperaturen sommerlich strahlenden Urwald vor, dessen gesamte Gedankenkraft, die der Künstler dem Urwald einpflanzt, damit er weiterhin gedeihen kann, unerlässlich dem Resultat eines begierigen Schöpferdrangs entspricht. Ob allerdings jeder einzelne Baumstamm jemals erfassbar sein kann, jede Strauchschicht, jedes Insekt? Nein, und genau dort, auf dieser leeren Bodenfläche, die nicht mehr rekonstruierbar ist, sprießen die originellsten, zugleich perspektivisch richtungsweisendsten Assoziationen eines Publikums, das den Boden gemeinschaftlich weitaus nutzbringender zu bepflanzen vermag als ein Einzelner im Schlepptau mit seiner individuellen Saat.

Was meine ich also, wenn ich mir die Frage stelle, was mir Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ noch heute mitzuteilen weiß? Es bedeutet, dass es sich um ein Werk handelt, bei dem der gesamte Urwald angesichts seiner Dichte an Gedanken, seiner Staffelung an Bewusstseinsveräußerlichungen, seiner, zusammengefasst, artenvielfältigen Bepflanzung nicht erschlossen ist. Und dass dieses Werk fortdauert, aber nicht im Schöpfer allein, sondern vorrangig in uns selber.

Brecht sagt mir, dass a) Freuds erste im 20. Jahrhundert formulierte „Kränkung der Menschheit“ ein paar Jahrhunderte früher weitaus höhere Wellen geschlagen haben dürfte. Denn um die sogenannte „kosmologische Kränkung“ des österreichischen Psychoanalytikers kreist Brechts Werk „Leben des Galilei“ im gesamtgesellschaftlichen Bezugsrahmen. Wenn Galileo Galilei sein revolutionär astronomisches Wissenschaftsverständnis auf der Forschung Kopernikus‘ eklektisch modifiziert, dann erhalten wir annäherungsweise eine Ahnung davon, welche Auswirkungen damit einhergingen, veraltete und religiös verbrämte Grundsätze zu hinterfragen und im Gegenzug die bestehenden gegen erneuerte ersetzen zu wollen. Die „kosmologische Kränkung“ nach Kopernikus beinhaltet laut Freud die Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei, wohingegen sie selbst um die Sonne kreise. In Brechts von ihm so bezeichnetem „epischem Stück“ führt Galilei folglich erbitterte, nichtsdestotrotz vielschichtige Debatten gegen den Adel, den Klerus und einige Gelehrte; er repräsentiert den paradoxen Fortschrittsgedanken des Nichtwissens und argumentiert gegen den totalitären Stillstand des absoluten Wissens. Dieser „Umbruch“ aber, den Galilei anstrebt, ist kein spiritueller, sondern ein gesellschaftspolitischer Umbruch, wonach tradierte Prinzipien, ganz gleich, welcher Art, einer Überprüfung bedürfen, damit ein „System“, ganz gleich, wofür dieser Begriff auch stehen mag, sich pluralistischer dem Menschen per se öffnet. Brechts Sprachrohr Galileo Galilei erweist sich somit als Schablone eines bedingungslosen Humanisten, aber auch als Schablone eines auf eigene Sinneserfahrungen vertrauenden Empiristen.

Brecht sagt mir darüber hinaus, dass b) Menschen so frei gar nicht handeln können, wenngleich sie frei geboren werden. Innerhalb einer existenzphilosophischen Betrachtung, die strukturalistisch um eine zusätzliche Tiefenschicht erweitert wird, zeigt „Leben des Galilei“ die Diskrepanz von Freiheit und Einschränkung auf. Auch wenn Sartre davon schrieb, dass der Mensch dazu verurteilt sei, frei zu sein, indem er seiner Existenz eigenständig einen Sinn verleihe, haben die Strukturalisten dagegen herausgestellt, dass das Individuum dennoch in Strukturen verhaftet sei, die dessen freien Willen zu handeln einschränken. Strukturen wie Sprache und Moral, aber auch bürgerliche Normen und gesellschaftliche Paradigmen bedeuten laut dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan, insbesondere im Kontext der sprachlichen Struktur, „symbolische Ordnungen“, die es, um es mit den Worten Friedrich Nietzsches und Ludwig Wittgensteins auszudrücken, letztendlich verhindern, dass das innerste Wesen eines „Dings“ über seine im Grunde arbiträre Bezeichnung hinaus jemals erfahren werden kann.

Offen bleibt, welcher „Strukturen“ sich nun jene Gelehrten bemächtigen, die, indem sie sich auf Aristoteles‘ Lehre berufen, Galilei versuchen zu überzeugen, von seiner eigenen Lehre eines heliozentrischen Weltbilds Abstand zu nehmen. Ganz dem, was „immer“ schon war, was überliefert wurde, von den antiken Philosophen, den alten Kirchenvätern, bleiben die Gelehrten ganz ihrer selbstverständlichen Struktur als einer „höheren Pflicht“ unterstehende Abgesandte einer totalitären, einer rückständigen Obrigkeit erhalten – und damit einer selbstbeschränkenden „symbolischen Ordnung“ des eine beschützende Funktion innehabenden Glaubens vor dem Zweifel vernunftgemäßer Aufklärung. Sartres existenzialistischer Freiheitssatz wird bei Galileis Widersachern, demgemäß, ironisch umgedreht: Obgleich alle Vertreter jener aristotelischen Ideenlehre frei geboren wurden, wie jeder Mensch im Übrigen auch, wählten sie schlussendlich die Unfreiheit in ihrem Glauben an die Institution Bibel.

Brecht sagt mir vor allen anderen Dingen, dass c) die zugrunde liegenden Themen eines Machtspiels zwischen Stagnation und Fortentwicklung universell gelesen werden dürfen. Immerhin bestimmen, als eine Form der heutigen Verhältnisse entsprechenden Weiterführung, emotionale wie auch rationale Herangehensweisen, um ein „Problem“ unterschiedlichster Ausprägung zu lösen, unsere nunmehr säkularisierte Lebenswirklichkeit, und nicht erst seit dem Wirken Galileo Galileis. Die Kraft dieses Werkes kann heute, in einer Zeit, in der hysterische, unüberlegte Kurzschlussreaktionen das schlüssige, zutiefst kompromissbereite Argument zu überwiegen scheinen, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Bertolt Brecht erteilt der repressiven Unabänderlichkeit einer sowohl auf abergläubischen als auch auf despotischen Maximen errichteten Struktur- und Denkordnung eine Abfuhr. Zum Wohle des sich frei entfaltenden Menschen gemahnt Brecht an die Bedürfnisse desselben – und schenkte uns ein Fleckchen Urwald, der immer da sein wird, um sich eine besondere dort wachsende Pflanze genau anzusehen.